Christa Borchert

 geboren:

5.9.1935

 verstorben:

2. 2. 2013 

 

 

 

   

Biografie:

Geboren in Berlin. Ab 1936 in Lemwerder/Oldenburg wohnhaft, ab 1943 in Köthen, ab 1947 in Dessau. 1950 Abschluss der Grundschule, 1953 Buchhändlerlehre, tätig im Buchhandel. 1960 Zirkel schreibender Arbeiter. Seit 1991 Altersübergang und Rente.

Bibliografie:

Bedrohung der Stadt Bor, Erzählungen, 1967, Berlin, Verlag der Nation
Landschaft mit Regenbogen, Roman, 1974, Rostock, Hinstorff
Ein Schiff mit Namen Esmeralda, Roman, 1974, Rostock, Hinstorff
Überfahrt zwanzig Pfennig, Kurzprosa, 1987, Rostock, Hinstorff
Paster Düwel, Theaterstück, 1986

Arbeitsgebiete:

Erzählungen, Roman, Theaterstück

Themenangebote:

Lesungen und Gespräche zum jeweiligen Thema für Erwachsene und Schüler ab 16 Jahre.

Aus gesundheitlichen Gründen sind keine Veranstaltungen möglich.

Textprobe:

Papierschwalben

Wenn man von einer Reise zurückkehrt, erscheint einem die Welt, in der man bisher gelebt hat, klein und eng. Dieser Gedanke kommt mir nun, da ich wieder in meinem langgestreckten Zimmer stehe.
Diese Zelle im vierten Stock gehört mir, auf der großen weiten Welt sind diese fünf mal zwei Meter mein Zufluchtspunkt. Ich bin wieder bei meinen alten Atlanten und dem Globus, dem Regulator und dem Sekretär aus Kirschbaumholz, dem braunen Bett hinter der Tür, dem Lehnsessel, der mit grünrotem Rosenstoff überzogen ist gegen meinen Willen, mit dem blauen Läufer, der das Zimmer noch länger erscheinen lässt.
Wenn ich Zeit hätte, würde ich die Abende über meinem alten Atlas verbringen und mit der Lupe nach Namen wie Athabaska oder Tiahuanaco forschen, ich würde vielleicht auch die Karte absuchen nach Orten, an denen ich jüngst gewesen bin, und der Name Schwarzburg ist plötzlich keine Zauberformel mehr.
Aber das Papier stapelt sich auf dem Sekretär, ich will über meine Freundin Clara Voß schreiben, sie wird zwar meine Zeilen nicht lesen, sie hält diese Arbeit für Zeitverschwendung. Oft habe ich auf der Reise ihre Ratschläge vermisst, sogar unsere Missverständnisse, aber vor allem unsere Erinnerungen, ihre kleine Gestalt, die ich nicht wahrhaben will, weil ich stets unter dem Eindruck stehe, zu ihr aufsehen zu müssen, ihren alles durchschauenden Blick, ihre Nüchternheit und ihren Humor. Wie oft habe ich auf meiner Thüringenreise zu ihr sprechen wollen, und sie war nicht neben mir.
Es kam mir der Gedanke, über unsere Freundschaft zu schreiben und alles das zu sagen, was bis jetzt unausgesprochen blieb. Immer, wenn ich sie besuche, bleibt etwas unausgesprochen, das zwingt mich, zu ihr zurückzukehren, doch wenn ich sie dann wieder verlasse, bin ich noch genauso unzufrieden. Nun werde ich das Ungesagte aufschreiben. Wenn mir nur nicht wieder Bedenken kämen!
Ich höre sie schimpfen: „Brotlose Kunst, Schellemann“, und es ist ja wahr! Einmal entdeckte Clara in einem Heimatkalender ein Gedicht, sie sagte es mir, und man zahlte mir das Honorar nach, aber sonst hat mir mein literarisches Bemühen nichts eingebracht. Nun will ich einen viel Zeit in Anspruch nehmenden Plan ausführen, und ich weiß, Clara wird lächeln und schweigen, aber ich sehe ihr an, dass sie Mitleid empfindet. „Kannst du es immer noch nicht lassen?“, wird sie spotten. „Träume lieber über deinen Atlanten, suche mit der Lupe nach exotischen Namen, obwohl das auch nichts einbringt, aber lass die Schreiberei, sie kostet Zeit, Papier und Tinte. Niemand hat etwas davon. Du selbst auch nicht.“ So ist sie.
Tatsächlich hatte niemand etwas von meinen Gedichten, die ich ihr schickte. Damals war ich Lehrer an einer kleinen Schule in Hünden, ein alter Fachwerkbau mit schmiedeeisernem Brunnen, Kopfsteinpflaster im winzigen Schulhof und Heckenrosen, die sich zum Klassenfenster hinein rankten. Ich unterrichtete alle Fächer und hatte in den Pausen manchmal so viel Zeit, dass ich Einfälle zu Gedichten machen konnte. Ich schickte sie Clara und hoffte, sie würde sie lesen. Ich stellte mir vor, wie sie auf meine Briefe wartete, sie ungeduldig aufriss, obwohl ich wusste, dass sie immer ein Messer dazu nahm, dann die Blätter in ein Kästchen legte und eine Schnur darum band. An einem Sonntag besuchte ich sie. Wolf, der Sohn ihres Bruders Adolf, spielte auf der Straße mit einer kunstvoll gefalteten Papierschwalbe. Sie flog mir entgegen, ich fing sie auf, wollte sie ihm schon wieder aushändigen, da erkannte ich meine eigene Handschrift, und, als ich näher hinsah, eines meiner Gedichte.
„Woher hast du das?“, fragte ich erschrocken. „Aus dem Kohlenkasten“, antwortete er, „es ist so schönes Papier.“
Heute sehe ich auf diese Episode ohne Bitterkeit.

Aus: „Landschaft mit Regenbogen“