Christina Seidel

 geboren:

10.9.1952

 Adresse:

Hildebrandweg 4       06128 Halle

 Telefon:

0345 / 444 98 45 (priv.)    und  0345 / 775 46 15 (dienstl.)

 E-Mail:

info@christinaseidel.de

 

Biografie:

In Halle geboren, verheiratet, zwei Kinder. Chemiestudium und Promotion in Halle. Lehrassistent an der MLU bis 1981, danach Recherchetätigkeit für die Forschung im Chemischen Kombinat Bitterfeld. Seit 1983 schriftstellerisch tätig.
Seit 1993 Leiterin des „Kinder-Jugend-Schreibringes“ und der Begegnungsstätte „Schöpf-Kelle“ in Halle. Stadtschreiber von Halle 2000.

Bibliografie:

Halle – für junge Leute, Historie-Heimat-Humor, 1992, Königstein/Taunus, Ruth-Gerig-Verlag
Halle und seine Kirchen, 1993, Leipzig, benno-Verlag
Sachsen-Anhalt – Land und Leute, 1994, Leipzig, LKG-Verlag
Die ausgefallene Geisterstunde, Kobold- und Gespenstergeschichten, 1998, Halle, Heiko Richter Verlag
Ein Justizmord in Halle. Aufstieg und Fall des Hans von Schönitz (mit Kurt Wünsch), 2000, Halle, Heiko Richter Verlag
Halle an der Saale – Ein Stadtrundgang mit Hans von Schönitz, 2001, Halle, DVZ-Verlags-GmbH
Halle an der Saale – Ein Stadtrundgang mit Christian Thomasius und einer Hexe, 2001, Halle, DVZ-Verlags-GmbH
Halle an der Saale – Ein Stadtrundgang mit August Hermann Francke, 2002, Halle, DVZ-Verlags-GmbH
Halle an der Saale – Ein Stadtrundgang mit fünf Frauenzimmern, 2003, Halle, DVZ-Verlags-GmbH
Halle an der Saale – Ein Stadtrundgang mit Richard Robert Rive, 2004, Halle, DVZ-Verlags-GmbH
Die kleine Nixe Hallelore, Ein Stadtführer für Kinder, 2003, Halle, DVZ-Verlags-GmbH
Sagenhafter Saalekreis (mit Kurt Wünsch), 2007, Halle, Mitteldeutscher Verlag

Arbeit als Herausgeberin:

Herausgeberin der Teekessel-Reihe – Schüler schreiben, 1993-2000, Halle
Versuchungen – und keine Angst vor einflußreichen Männern, Mitherausgeberin, 1999, Oschersleben, dr. ziethen verlag

Sandmann-Geschichten für Rundfunk und Fernsehen, Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften

Arbeitsgebiete:

Erzählungen, Kinderbücher, Märchen, Sagen

Themenangebote:

1. Märchen und Geschichten für Grundschüler
Die ausgefallene Geisterstunde, Fix und Fertig aus der Dose, Das Uhrenfräulein Fünfvorzwölf, Immer bestimmt Oma usw.
2. Ich schreibe schon Geschichten
Schreibwerkstätten mit Schülern ab 2. Klasse
3. Sachsen-Anhalt – Land und Leute
Kurioses und Wissenswertes über unser Bundesland
4. Jeder träumt für sich allein
und andere Frauengeschichten nicht „nur“ für Frauen, für Schüler der 10. bis 12. Klasse und Erwachsene
5. Schreiben als Lebenshilfe
Schreibwerkstätten mit Erwachsenen

 

Textproben:

Frühhort

Ich habe Angst. Im Dunkeln. Allein. Vor dem Hort.
Du hast doch keine Angst, Lenchen, sagt mein Vati, bevor er geht. Frau Schneider kommt gleich. Du bist ja schon groß.
Warum nennst du mich dann Lenchen? Sag Lena zu mir.
Du bist und bleibst mein Lenchen. Er drückt mir die Hand, dass ich laut Auah schreie.
Ich habe Angst, sage ich leise. Er ist schon fort. Es ist kalt und dunkel. Ich warte und fange an, Sterne zu zählen. Ich kann schon bis tausend zählen. Ich gehe ja schon in die zweite Klasse. Und in den Frühhort. Weil meine Mutti bei der Post arbeitet und ganz zeitig Briefe austeilen muss. Mein Vati ist eigentlich arbeitslos, obwohl er arbeitet. Für ganz wenig Geld. Als Hausmeister.
Mein Hort heißt Bäumchen. Als man das Haus gebaut hat, waren die Bäume im Garten sicher noch klein. Jetzt sind sie riesig. Mich nennt man auch Lenchen, obwohl ich schon in die zweite Klasse gehe.
Jetzt bin ich mit dem Sternzählen durcheinander gekommen. Bei 22. Ich glaube, den einen habe ich zweimal gezählt. Wie viel Sterne gibt es?
Manchmal habe ich Angst, dass ich bis tausend oder mehr zählen muss.
Es klingelt. Lang und hell und fröhlich. Na, du Frühaufsteher, zählst du wieder Sterne, ruft Frau Schneider. Sie schließt ihr Rad an. Ich laufe zu ihr hin und habe kein bisschen Angst mehr.
Wie viel Sterne hast du denn gezählt?, fragt sie.
22. Gestern 27 und vorgestern gar keine.
Hast du vorgestern nicht warten müssen?
Doch, aber die Sterne hatten sich versteckt.
Im Haus lege ich Mütze, Schal und Handschuhe ab, hänge meinen Mantel an den Haken und ziehe meine Hausschuhe an. Frau Schneider kocht Tee. In einem riesengroßen Topf.
Unten klappt die Tür. Huy, sage ich. Jetzt kommt Huy.
Huy ist groß und stark und schnell. So schnell wie der Wind, sagt er. Deshalb haben mich meine Eltern Huy genannt.
In Vietnam kriegt man seinen Namen wohl erst, wenn man weiß, wie man ist, habe ich gefragt. Er hat mich angeguckt, als ob er mich nicht versteht, und ist ohne Antwort weggelaufen. Wie der Wind.

Im Frühhort fehlen noch Madeleine und Josephine. Die Unzertrennlichen, sagt Frau Schneider. Die mich nie mitspielen lassen. Die ich trennen wollte. Bloß wie? Mit einer Schere? Mit einem Beil? Alles Quatsch! Mit einem Stück Stolle? Oder Schokolade? Mit einer tollen Spielidee? Schon ausprobiert. Klappt nicht! Ich habe aufgegeben. Sollen sie mich nicht mitspielen lassen ...
Draußen verschwindet die Dunkelheit. Wohin verschwindet die Dunkelheit? Keiner beantwortet mir das? Vati sagt, du, mit deinen Fragen, Mutti sagt, du fragst mir noch Löcher in den Bauch, Frau Schneider sagt, frag deine Lehrerin, und in der Klasse lachen sie mich aus, wenn ich solche Fragen stelle. Dann möchte ich mit der Dunkelheit gemeinsam verschwinden.
Setzt euch an den Tisch. Wir frühstücken, sagt Frau Schneider. Sie gießt Tee ein.
Willst du meine Milchschnitte?, frage ich Huy. Er nickt.
Und was isst du?, fragt Frau Schneider.
Ich habe keinen Hunger.
Nichts da, du isst deine Milchschnitte selbst!
Madeleine und Josephine tauschen ihre Milchschnitten.
Huy sagt, das sind doch die gleichen, so ein Quatsch.
Das verstehst du nicht, sagt Josephine.
Ich verstehe das auch nicht, sage ich.
Weil ihr dumm seid.
Selber dumm!
Nun schließt euren Mund und esst!, sagt Frau Schneider verärgert.
Wie kann man mit geschlossenem Mund essen?, überlege ich.
Wenn ich frage, lachen sie bestimmt. Auch Huy?
Wie kann man mit geschlossenem Mund essen?, frage ich.
Sei nicht so vorlaut, sagt Frau Schneider. Madeleine und Josephine lachen ...

 

Karsten ist ein Weiberfeind. „Wir protestieren auf allen vieren, denn wir wissen, Weiber sind beschissen“, ist einer seiner Lieblingssprüche.
Im Winter befeuert er die Mädchen mit Schneebällen. Im Sommer im Schwimmbad taucht und schubst er sie ins Wasser, in der Schule versteckt er ihre Füller und klebt alte Kaugummis an ihre Rucksäcke.
Auf Pauline hat er es besonders abgesehen. Pauline geht in seine Klasse und wohnt in seinem Haus. Obwohl, es ist ja nicht seine Klasse und auch nicht sein Haus. Das Haus gehört seinen Eltern, und die Klasse ... Ja, wem gehört wohl die Klasse? Der Lehrerin oder der Direktorin oder dem Hausmeister ...? Muss eigentlich alles irgendwem gehören? Auch der Stein auf der Straße oder die Blume am Feldrand?
Karsten denkt jedenfalls, dass alles in seiner Umgebung ihm gehört oder jedenfalls fast alles. Und den Mädchen gehört der klägliche Rest: Haarspangen und Zopfhalter, Milchschnitten und Lollys, Pferde und Meerschweine, Tagebücher und Aufkleber, Barbies und Plüschtiere ...
Bei seinen Eltern ist das ähnlich. Mutter gehört der Herd, die Waschmaschine, das Bügeleisen, Geschirr, Töpfe, Bestecke, die Grünpflanzen, zwei Schränke voll Kleider und das Nähkörbchen.
Vater arbeitet und verdient eine Menge Geld. Davon hat er das Haus gekauft und das Auto und die Putzfrau Hedwig. Nein, die Putzfrau Hedwig hat er natürlich nicht gekauft, aber trotzdem Mutti zum Geburtstag geschenkt.
Karsten würde Pauline auch gern kaufen. Dann aber nicht verschenken, sondern für sich behalten. Für fünf Mark müsste sie seine Hausaufgaben machen, sein Rad putzen, seine Tasche in die Schule tragen. Sie müsste in der Schule hinter ihm sitzen und vorsagen. Wie viel acht mal drei ist und warum.
Aber Karsten weiß, dass sich Pauline nicht kaufen lassen würde und dass sie sich weigern würde, ihm vorzusagen und sein Rad zu putzen und seine Tasche zu tragen. Und deshalb ist er sauer auf sie und ruft ihr auch heute nach Schulende diesen blöden Spruch hinterher. „Wir protestieren auf allen vieren ...“
Pauline lässt ihn nicht ausreden. Sie lacht, lacht ihn einfach aus und sagt: „Na, dann lauf doch endlich auf allen vieren! Wird schön komisch aussehen. Wie ein Zwergpinscher!“ Sie will mit ihrem Rad davonfahren, doch nach wenigen Metern muss sie absteigen, weil das Hinterrad verdächtig rumpelt. Keine Luft im Reifen. Karsten spurtet an ihr vorbei und sagt grinsend: „Wer zuletzt lacht, lacht am besten!“
Pauline verzieht das Gesicht zu einer Grimasse, steckt Karsten die Zunge raus, aber eigentlich möchte sie heulen. Zwei Kilometer Fahrrad schieben. Jetzt ist die Feindschaft offensichtlich. Morgen in der Pause wird sie an seinem Fahrrad auch die Luft auslassen und rufen: „Ich protestiere in der Türe, denn ich weiß, Karsten ist ’en Scheiß!“
Ob er sie dann verprügelt? Sie wird vorsichtshalber den Zirkel in die Jackentasche stecken!
Plötzlich entdeckt das Mädchen am Rand des Fußsteigs ein Schlüsselbund. Sie hebt es auf. Drei Schlüssel mit einer kleinen Holzgiraffe als Anhänger. Die Giraffe gefällt ihr. Irgendwo hat sie die schon mal gesehen.

Aus: „Finderlohn“

 

Es ist Sonntag, für Anna kein gewöhnlicher Sonntag. Seit Stunden liegt sie wach. Noch fällt kein Lichtschein durch die Jalousien, und die Nacht erscheint ihr endlos.
Sie starrt auf die Kommode neben ihrem Bett. Die Vase darauf sieht aus wie das Gesicht eines Wolfes. Großmutter und der Wolf.
„Warum hast du so viele Falten, Großmutter?“
„Damit ich meine Schmerzen besser verstecken kann.“
„Großmutter, warum hast du so wenig Haare?“
Karls Schnarchen neben ihr klingt wie Wolfsgeheul. Angst kriecht in Anna hoch.
„Großmutter, warum hast du so wenig Haare?“
„Ich habe sie verloren, wie meine nichtgelebten Träume.“
Sie schnalzt laut mit der Zunge. Karl dreht sich, beginnt tief und ruhig zu atmen.
Das Wolfsgesicht ist immer noch da.
„Großmutter, warum hast du einen so großen Buckel?“
„Darin sammle ich meine nichterzählten Geschichten.“
Meine Geschichten. Welche Geschichten? Anna schließt die Augen.
Sieht Enkelkinder zu ihren Füßen, lauschend mit offenen Mündern.
Großmutter, noch eine Geschichte, bitte, du kannst so spannend erzählen, Großmutter, dürfen wir morgen wieder zu dir kommen, Großmutter!
Vor dem Fenster beginnt eine Amsel zu singen. Anna öffnet die Augen und seufzt. Enkelkinder? Spannende Geschichten? Ulrike ist siebzehn. Anna konnte nie spannend erzählen. Meist lief Ulrike zu ihrem Spielzeug, ehe die Geschichte zu Ende war.
Anna entspannt sich, schließt wieder die Augen. Wer alt ist, darf nicht mehr träumen. Sollte nicht mehr. Braucht nicht mehr. Kann nicht mehr?
Das bunte Heft, warum musste Ulrike es auch bei ihr vergessen. Das Heft mit den Bildern. Mann und Frau intim. Kann man sich kaufen. An jedem Zeitungskiosk. Ich habe auch einen Mann, denkt Anna. Und bin eine Frau.

Aus: „Jeder träumt für sich allein“