Joachim Specht

 geboren:

6.1.1931

 verstorben:

12.2.2016

 

 

 

   

Biografie:

Geboren in Weinböhla/Kreis Meißen als Sohn eines technischen Kaufmanns. Nach einer Schlosserlehre in Hamburg arbeitslos. 1952 Auswanderung nach Australien, Kontraktarbeiter bei der Südaustralischen Eisenbahngesellschaft.
1955 Rückkehr nach Dessau. 1957 Meisterprüfung als Schlosser. 1960 erste Schreibversuche im Zirkel schreibender Arbeiter. Seit 1972 freischaffender Autor.
Der Autor ist im australischen Schriftstellerkatalog Eagle and EmuDeutsch-australische Schriften 1939-1990 (Herausgeber Manfred Jürgensen) – im Jahr 1992 mit 6 Rezensionen vermerkt worden.

Bibliografie: (Auswahl):

Peterborough Story, Erzählungen, 1963, Berlin, Verlag der Nation
Die Gejagten, Roman, 1967, Berlin, Verlag der Nation
Perpetuum mobile und Wunder dauern etwas länger, Familiendilogie, 1975 und 1981, Berlin
Daniels Weg in die Steinzeit, Roman, 1985, Berlin, Verlag der Nation
In den Korallenriffen, Erzählungen, 1987, Berlin, Verlag Neues Leben
Der Fall Schlottbeck, Erzählung, 1992, Dessau, Anhaltische Verlagsgesellschaft
Die Lady im Busch, 1994, Bayreuth, Verlag der Nation
Australian Cowboy, Erzählungen, 1997, Emsdetten, Verlag first minute
Capricorn, Erzählungen, 1998, Emsdetten, Verlag first minute
Ich, Johann Bernhard Basedow, 1999, Dessau, Anhaltische Verlagsgesellschaft
Koala heißt das Wappentier, Erzählungen, 2000, Emsdetten, Verlag first minute
Der lange Weg des Filmvorführers, Kriminalroman, 2001, Emsdetten, Verlag first minute
G-Day Rückkehr nach Australien, Reisebericht, 2002, Emsdetten, Verlag first minute
Lockruf der Kontinente, Erzählungen, 2005, Emsdetten, Verlag first minute
Knalltrauma, Roman, 2005, Emsdetten, Verlag first minute
Das Geheimnis der Kragenechsen, Roman, 2006, Emsdetten, Verlag first minute
Die Erblast von Kapen, Dokumentation, 2007, Emsdetten, Verlag first minute
Der Kupferkopf, Zwei Abenteuererzählungen, 2010, Erfurt, Verlag TES, BunTES Abenteuer 6/2010

Beteiligung an Anthologien usw.:

Kapenbericht, in Dessauer Kalender 1994, Stadtarchiv Dessau
Sachsen-Anhalt-Hausbuch (Mitherausgeber), 1995, Bayreuth, Verlag der Nation

Weitere Abenteuererzählungen

Arbeitsgebiete:

Abenteuererzählungen und -romane

Themenangebote:

1. Lesungen für Jugendliche ab 6. Klasse mit anschließendem Gespräch
2. Erzählen über Erlebnisse im australischen Busch
3. Vorzeigen von Exotika: Bumerangs, Woomeras usw.

Textprobe:

Das Engelchen über mir

Wenn ich mein Leben Revue passieren lasse, dann muss ich feststellen: Es hat gewiss Erlebnisse gegeben, die alles andere als erheiternd klingen. Wie leicht hätte da mal was schief ausgehen können. 1987 hat mich Heinz Szillat, der Dessauer Maler, gemalt: mit verschränkten Armen, vollem Haar, den Blick in die Ferne gerichtet, in einem knallroten Hemd mit Armen, die einem Bodybuilder zur Ehre gereicht hätten. Ich ein kraftstrotzender, wagemutiger Kerl? Also – nicht die Hälfte stimmt. Im Bitterfelder Chemiekombinat, wo ich als Autor viele Lesungen absolvierte, habe ich mir mein Asthma zugezogen, nach drei Treppen greife ich heute zum Pumpspray. Natürlich versuche ich die Luftknappheit zu überspielen. Aber das klappt längst nicht immer.
Es war einfach Leichtsinn, auch Neugierde, die mich manchmal haben handeln lassen. Und vermutlich habe ich es einem Engelchen zu danken, meinem Engelchen, das mich vor dem Schlimmsten bewahrte.
Blättern wir mal zurück: Mittwoch, 13. Februar 1945, 22.00 Uhr in Dresden. Der Rotkreuzmelder Specht begibt sich nach erfolgtem Voralarm von seinem Internat zur Einsatzstelle. Er hat es nicht eilig, in dieser Gegend ist noch nie viel passiert. Minuten später rennt er um sein Leben.
Mit verbrannten Schuhsohlen, stinkender HJ-Kluft und einer üblen Rauchgasvergiftung landet er in einem Behelfslazarett. Später – in „Stippvisite“ – habe ich darüber geschrieben.

Am nächsten Tag fuhr ich nach Mickten, dort endete die Straßenbahn, man ging zu Fuß weiter. Die meisten Leute suchten jemanden, ich auch. Mein Weg führte durch die Steinwüste vom Neumarkt, ich balancierte über das Gerippe der Augustusbrücke und stieß hinter dem Postplatz auf die ersten Leichenberge. Die Mariannenstraße war nur ausgebrannt, der Dippoldiswalder Platz glich einer Spuklandschaft, dahinter war die Welt vermauert. Ich kletterte zwischen den Trümmern umher, landete auf dem Altmarkt, hielt mir die Nase zu, mir war elend vom Gestank, da erkannte ich an den verkohlten Baumstümpfen den Hinterhof meiner Schule. Die Notausstiege gähnten schwarz, aus den Sandsteinhalden ragten Schornsteine dünn empor. Ich fand den Mut, in den Schulkeller zu steigen. Im Licht der Streichhölzer entdeckte ich außer Gepäckstücken nichts. Offenbar hatte man die Kameraden durch den freigeschaufelten Einstieg herausgeholt.Vielleicht lebten sie noch? Herr Löbner führte vor einer Woche die Schlafsaalaufsicht, ihm traute ich das zu.
Draußen bekam ich Ärger. „Was tust du da? Du plünderst wohl? Im Schweizerviertel sitzt schon einer mit einem Schild vor dem Bauch!“ Ich wies mich aus, und der Pionierfeldwebel gab mir das Papier zurück. „Hier lebt keiner mehr, aber nun verschwinde, dalli, wir sprengen gleich Blindgänger.“ Ich verließ das Kommando in Eile und fühlte mich irgendwie befreit. Rohrstock und WHW-Büchse waren verbrannt, mein Obst durfte ich allein essen, alles erledigt, Beten, Schulfraß, Kleingeld, Schulgeld, keine Angst mehr vor der Schlafsaalaufsicht, die heimlich heranschlich und die Bettdecken wegzog, um uns beim nächtlichen Obolus zu überraschen. Vorbei mit der Kopfleere, nichts würde meinen Sinn trüben, alle Ängste waren verbrannt – hier lebte ja keiner mehr, der Feldwebel musste es wissen.
Als ich zum Platz hinabkletterte, hielt mir einer seine Hand hin, er wollte hinauf auf die Trümmer. Ich muss ihn entsetzt angestarrt haben, jedenfalls fing sich Herr Löbner zuerst und schlug mir wie seinesgleichen auf die Schulter. „Menschenskinder, Kränkel, du lebst ja noch, ist ja großartig, wie bist du denn herausgekommen, du warst doch Melder ...“ Er merkte, dass meine Stimme so heiser war, dass ich kaum antworten konnte, und befahl mir zu warten. Er wollte im Schulkeller etwas suchen. „Wir machen in Radebeul weiter“, hörte ich noch von oben, „die meisten sind wohlauf ...“
Ich sah ihn elastisch über die Trümmer klettern und trat unwillkürlich zurück. Herr Löbner war nicht kleinzukriegen. Gegen den Horizont hob sich seine Gestalt ab wie ein beweglicher Finger. Der Herzog Widukind spricht zu den Gaufürsten. Hinter ihm stieg dünnes Gewinsel hoch, eine Sirene, und zugleich fiel mir der Feldwebel ein. „Herr Studienrat, Herr Studienrat!“ Meine Stimme bellte, das Geräusch flackerte von den Mauern wider, er musste es gehört haben, winkte kollegial zu mir herunter und begriff nicht, was mein Rudern mit den Armen bedeuten sollte. Die Explosion presste mich nieder. Ich bekam nichts ab. Als ich suchen wollte, hörte ich schon von weitem den Feldwebel fluchen und verdrückte mich.

Zwei Monate später war die Volkssturmherrlichkeit vorbei, der Führer gefallen, und die Russen kassierten Radios, Telefone und Luftgewehre. Mit meinem Vater, einem Buchhalter, der wegen seines Alters nicht mehr an die Front hatte ziehen müssen, sammelte ich im Moritzburger Forst Brennholz für unseren Küchenofen. Dabei wurden wir plötzlich von Russen kontrolliert: Hände hoch, umdrehen! Mich übersahen sie glücklicherweise.
Da war es wieder, das Engelchen, das mich schützte. In der rechten Tasche meiner kurzen Hose steckte ein sechsschüssiger Nagant-Trommelrevolver, Kaliber 7,62, wie ihn die russischen Offiziere trugen.

Aus: „Kreuz und quer aus meinem Leben“