Hans-Jürgen Steinmann

 geboren:

4.9.1928   (so!)

 verstorben:

22.9.2008

 

 

 

   

Biografie:

Geboren in Sagan (Niederschlesien). Der Vater ist Diplomingenieur, die Mutter Hausfrau und nebenbei schriftstellerisch tätig. Besuch der Oberschule am Zwinger in Breslau. 1944 Einberufung zur Heimatflak. Nach Kriegsdienst als Luftwaffenhelfer 1944/45 Teilnahme an den Kämpfen um die „Festung Breslau“. Bis Dezember 1947 in Kriegsgefangenschaft (Kiew – Sowjet-Ukraine). Heimkehr in die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands nach Halle/Saale, Chemiearbeiter in den Leuna-Werken, Redaktionsvolontär bei der Mitteldeutschen Tageszeitung Freiheit in Halle, Wittenberg und Weißenfels. 1951 Übersiedlung nach Schwerin und nach kurzer Tätigkeit in einem Postkartenverlag von 1951 bis 1958 Mitarbeiter des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands in Mecklenburg-Vorpommern. 1958 bis 1961 Studium am Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ in Leipzig. Seit 1961 freischaffender Schriftsteller in Halle. Verheiratet seit 1951, drei Kinder.
1960 Literaturpreis des FDGB, 1969 und 1971 Kunstpreis Halle-Neustadt, 1979 Händelpreis des Bezirkes Halle/Saale

Bibliografie:

Chemiewerk Leuna, Reportage in Aufbau, Heft 8/1949
Brücke ins Leben, Erzählungen, 1953, Berlin, Verlag Kultur und Fortschritt
Die Fremde, Roman, 1959, Halle, Mitteldeutscher Verlag
Die größere Liebe, Roman, 1959, Berlin, Verlag Kultur und Fortschritt
Stimmen der Jahre, Roman, 1963, Berlin, Verlag Kultur und Fortschritt
Über die Grenze, Novelle, 1963, Berlin, Verlag Kultur und Fortschritt
Städte machen Leute (mit Werner Bräunig, Jan Koplowitz und Peter Gosse), Reportage, 1968, Halle, Mitteldeutscher Verlag
Träume und Tage, Roman, 1970, Halle, Mitteldeutscher Verlag
Ohne Märchen wird keiner groß, Fernseherzählung zu einem Film des DFF von Rainer Bär, 1975
Zwei Schritte vor dem Glück, Roman, 1978, Halle, Mitteldeutscher Verlag
Zwei an der Saale, Texte zu einem Foto-Bildband (Fotos: Gerald Große), 1978, Leipzig, F. A. Brockhaus Verlag
Merseburg – Beschreibung einer Stadt, (Fotos: Gerald Große), 1980, Leipzig, F. A. Brockhaus Verlag
Quedlinburg, Texte zu einem Bildband (Fotos: K. H. Böhle), 1986, Leipzig, F. A. Brockhaus Verlag
Erlebtes – Erfahrenes – Ungedrucktes, Hallesche Autorenhefte Nr. 17, 1998, Halle, Förderkreis der Schriftsteller

Weitere Erzählungen, Reportagen, Märchen in Anthologien

nicht abgeschlossen:

Becher des Lebens, Roman einer Familie, autobiografische Erzählungen

Arbeitsgebiete:

Romane, Erzählungen, Reportagen, Märchen in Anthologien

Textprobe:

Aber nun war längst Sommer, Johannistag vorbei, und Tante Bertha hatte Einzug in der Herrenmühle gehalten. Hätte sie gewusst, dass die Herrenmühle ihre letzte Heimstatt auf Erden sein sollte, wäre sie kaum so willig mit auf die Reise gegangen. Im Grunde ihres Herzens hing sie einfach zu sehr an dem Städtchen, wohin ihr Wilhelm sie vor einem halben Jahrhundert heimgeführt hatte. Und sie war wohl auch, trotz all der komplizierten Neuerungen, die der Krieg mit sich brachte, an ihr selbstständiges Witwenleben gewöhnt. Der alten Dame wurde ein Zimmer im ersten Stock eingeräumt, das bislang für häusliche Arbeiten, als Nähzimmer und Bügelstube, genutzt worden war. Aus ihrem Fenster blickte sie in den Garten. Das gefiel ihr, obwohl es in Calau mehr zu sehen gegeben hatte. Dort führte die Straße unter ihrem Wohnstubenfenster entlang, da war immer buntes Treiben und Abwechslung gewesen.
Sehr rasch schloss sie sich an ihre Schwägerin Amalie Hoerstgen an. Ein alter Mensch braucht nun mal Gefährten, die Erfahrung und Erinnerungen mit ihm teilen. Für Großmutter Hoerstgen waren in dieser Hinsicht selbst ihre Töchter Alma und Martha, beide nun nahe den Fünfzig, noch junge Dinger. Und Tante Bertha war froh, in Amalie einem Menschen zu begegnen, mit dem sie einmal jung gewesen war.
Doch ihre Beziehungen hatten auch Schattenseiten. Bei aller Liebe stritten sie oft und lautstark miteinander. Jeder im Haus wusste das. Und keiner nahm es tragisch; man lächelte verständnisvoll dazu.
Nachmittags unternahmen die alten Damen ihren Parkspaziergang. Von weitem schon konnte man sie vernehmen. Tante Berthas Schwerhörigkeit war schlimm; sie verstand kaum ein einziges mit normaler Stimme gesprochenes Wort. Und manchmal wollte sie wohl auch nicht verstehen. Amalie Hoerstgen bot all ihre Stimmgewalt auf, um sich mit ihr zu verständigen. Daheim beklagte sie sich dann, wie stockheiser sie von dem Geschreie sei: „Keinen Tag länger mache ich das mit!“ Am Nachmittag drauf hörte man Tante Bertha an Großmutter Hoerstgens Stubentür pochen: „Malchen, kommst du wohl?“
Und Malchen kam, obwohl schon diese Anrede sie erneut ärgerte. Eine alte Frau von sechsundsiebzig ist kein Malchen mehr. Das war überhaupt ein Grund zu grollen: Die Schwägerin nahm sie nicht ernst. Bertha mit ihren fünfundachtzig Jahren wähnte sich der fast ein Jahrzehnt jüngeren Amalie an Lebenseinsicht weit überlegen. „Das verstehst du halt noch nicht, Malchen“, sagte sie. Da konnte es gar nicht ausbleiben, dass Amalie protestierte. Ein Wort gab das andere, und wieder einmal kehrten sie verzankt von ihrer Promenade zurück.
Die Bewohner der Herrenmühle aber wussten, dass morgen nach der Mittagsruhe Tante Berthas Stimme wieder durchs Haus schallen würde: „Malchen, kommst du nun wohl?“

Aus: „Becher des Lebens“

Das Fräulein Tarnow stand vor der Klasse, erhobenen Hauptes, auf den Zehenballen federnd. „Und wenn die Welt voll Teufel wär’ ...“, deklamierte sie. „Nun, Mädchen, wie heißt es weiter im Lied?“
Als eine der ersten meldete sich Ethel lmmerwahr. Kaum merklich runzelte die Lehrerin ihre Stirn. Es war jedoch nicht opportun, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, mochte es sie auch ärgern, wie dieses Kind, jüdisch frech, sich vordrängte, da es um das Lied der evangelischen Christenheit ging.
„Beate von Polkwitz, du wirst es uns sagen!“
Und Beate, die kornblonde, apfelwangige Tochter des Amtsgerichtsrats von Polkwitz, der als Reservehauptmann in Galizien stand, sagte mit hell tönender kindlicher Stimme auf: „Und wenn die Welt voll Teufel wär’ und wollt’ uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr, es soll uns doch gelingen!“
„Brav, Beate! So hat unser Doktor Martin Luther es uns gesungen. Hat es sich nicht als wahr erwiesen, über die Zeiten fort? Da schlägt sich nun also auch Italien, einst unser Bundesgenosse, auf die Seite des Feindes. Sollen wir zittern und zagen drum? Nein, ihr Mädchen, wie es im Liede heißt: Lass fahren dahin, sie habens keinen Gewinn ...! An den Wahlspruch unserer Väter wollen wir uns halten: Viel Feind – viel Ehr!“
Zustimmendes Raunen im Klassenraum; Edith wagte nicht aufzuschauen. Ein lähmendes Angstgefühl beschlich sie wie so oft, wenn sie Fräulein Tarnows vaterländische Reden anhören musste. Wofür schlägt dein Herz ...? Ach, sie nahm sich ja vor, tapfer zu sein. Wie beneidete sie Beate und die anderen Mädchen, die solche Furcht, diese Unruhe und Zweifel nicht kannten. Wenn sie es wenigstens fertigbrächte, kühl und unbekümmert wie Ethel den Augen der Tarnow standzuhalten. Doch sie, Edith zu Haagen, senkte wieder einmal feige den Blick. Der Mann mit dem Schwert zog seine Blutspur durchs Land. Wo wird sie enden?

Aus: „Becher des Lebens“

 

Kleine Elfe – so hat Moritz lmmerwahr sie später oft noch genannt. Und stets, wenn er es zu ihr sagte, hat Edith an diesen Tag im Januar 1913 gedacht, an dem sie zum ersten Mal erfuhr, wie sehr Moritz lmmerwahr, der Dreiundfünfzigjährige – und für Edith mit ihren elf Lebensjahren schon ein ganz alter Mann – seine kleine Tochter liebte. Diese Liebe bestimmte die wichtigsten Entschlüsse seines Lebens. Sie hat ihn zu Handlungen veranlasst, auf die er, ein Geschäftsmann, der genau zu rechnen verstand, sich niemals sonst eingelassen hätte.
Zuletzt hat Edith Borngräber den über achtzigjährigen Moritz lmmerwahr an einem Wintertag fast drei Jahrzehnte später noch einmal gesehen. Es ist wohl auch im Januar gewesen, und der Winter war kalt und schneereich wie vor beinahe dreißig Jahren. In der Gartenstraße, nahe dem Breslauer Hauptbahnhof, schaufelte eine Gruppe Männer und Frauen, von Uniformierten bewacht, den über Nacht reichlich gefallenen Schnee zusammen. Alle trugen sie den aus gelbem Stoff geschnittenen Stern an ihren Joppen oder Mänteln. Und einer, groß, krumm, ausgemergelt, sah sie mit kleinen, von lappiger Haut verdeckten Augen an.
Sie ging auf ihn zu.
Sie ging an ihm vorbei.
„Du wirst mir, ich hoff’s, kleine Elfe, nicht böse sein ...“
Sein faltenzerrissenes, altes Gesicht verschwamm ihrem Blick. Blind lief sie die Straße hinab.

Aus: „Becher des Lebens“