Elke Domhardt

 geboren:

12.5.1950

 Adresse:

c/o Förderkreis der Schriftsteller, Böllberger Weg 188 06110 Halle

 Telefon/Fax:

c/o 0345 / 283 22 57

 E-Mail:

elDomhardt@t-online.de

 

Biografie: 

Geboren in Ottendorf-Okrilla. 1968 Abitur in Dresden, bis 1971 Gesangsstudium, dann Wechsel an die Theaterhochschule in Leipzig. Schauspielabschluss im Jahr 1975. Sechzehn Jahre im Schauspiel in Halle engagiert, dann drei Jahre am Theater in Eisleben. Zur Zeit in freier Mitarbeit beim Sender MDR-Kultur beschäftigt. Von 1987 bis 1989 Fernstudium am Literaturinstitut in Leipzig. 1998 Würth-Literaturpreis der Universität Tübingen für das Theaterstück Kaspartheater.

Bibliografie:

Glückliche Kindheit, Erzählung, 1993, Winsen, Boldt-Literatur-Verlag
Pech, Erzählungen, 1997, Halle-Zürich, Janos Stekovics
Kaspartheater, 1998, Tübingen, Konkursbuchverlag, im Preisträgerbuch
Die schwankende Frau, 2001, Halle-Zürich, Janos Stekovics

Kaspartheater, Uraufführung: 2002, Chemnitz, Figurentheater

Beteiligung an Anthologien:

eDIT, Leipzig
Ort der Augen, Magdeburg
Stunde der Phantasten, 1996, Halle, Literaturbüro Sachsen-Anhalt-Süd
Eröffnungen, 1996, Halle, Literaturbüro Sachsen-Anhalt-Süd
Wer dem Rattenfänger folgt, 1998, Halle, Förderkreis der Schriftsteller
Das Kind im Schrank,1998, Leipzig, Faber & Faber

Arbeitsgebiete:

Erzählungen und Szenen

Themenangebote:

Jugendliche und Erwachsene:

Lesung und Gespräch zu: Erziehung und ihren Folgen, Fehlverhalten, Gewalt, innere und äußere Zwänge, Rollenspiele

Textprobe:

Luftschlucker

Es ist ein organischer Defekt bei mir, die Naht in meinem Rachen verläuft wahrscheinlich nicht genau in der Mitte. Zungenrücken und Gaumen passen nicht genau aufeinander. Das dichtet nicht richtig ab beim Schlucken. Mit jeder Mahlzeit, mit jedem Bissen kommt Luft in meine Kehle, von der Kehle in den Magen, dort bleibt sie und sammelt sich und quält mich und drückt.
Morgens flattert meine Hose an mir herum. Mittags spannt sie. Nachmittags platze ich sie fast aus den Nähten. Ich blähe im Laufe des Tages auf wie ein Ballon. Abends bin ich so leicht, dass ich mich kaum auf dem Boden halte. In den Ort mag ich schon gar nicht mehr gehen. Diese riesigen, unkalkulierbaren Sätze! Immer gleich mit dem Kopf über den Dachrinnen! Kinder hängen sich an mich an. Und Frauen. Ich schüttle sie ab. Es ist kein Verlass auf mich. Was sie für Stärke halten, ist nur warme Luft. Bei Sprengungen muss ich mich verankern im Gestein, mir schnell ein Geländer suchen, einen Mast, eine schwere Maschine, oder mich an die Bahnschienen klammern, sonst bläst mich die Druckwelle fort. Ich finde mich am andern Ende der Steinbrüche wieder, mit gebrochenen Rippen, wie mir das neulich passiert ist. Wehe, wenn Wind kommt und nichts in der Nähe ist, woran ich mich festhalten kann. Pfuch! bin ich weg. Einmal hat ein Sturm mich verweht. Für den Rückweg hab ich acht Tage gebraucht. Dazu die Nächte. In einem Verschlag, einem elenden, verrotteten Schuppen verbringe ich sie, weit weg von den anderen. Erst wälze ich mich stundenlang auf der Matratze, weil mir die nötige Bettschwere fehlt. Nach und nach werde ich schwerer, doch mit welchem Getöse! Mit welchem Gestank! Das mutet man keinem zu. Im Morgengrauen falle ich endlich in einen bleiernen Schlaf. Ein, zwei Stunden, dann ertönt die Sirene. Ich setze mich zum Frühstück auf, und alles beginnt von vorn.
Ich fresse die Luft regelrecht in mich hinein, als gäbe es nicht genug davon, als könnte ich den Hals nicht vollkriegen. Dabei ist Luft noch das einzige, woran es in den Steinbrüchen nicht mangelt. Kein Baum, kein Strauch, kein Gras, keine Blume, nur Steine und Staub und viel Luft. Mein Leben ist so trist geworden mit den Jahren! Das bisschen Freude, das man hier draußen hat, die paar kargen Feste sind mir vergällt durch Sorgen und Schmerzen. Der ständige Druck! Die ständige Furcht zu zerplatzen! Dabei nie das Gefühl der Sättigung! Immer unbefriedigt! Ich schlucke und schlucke. Der Magen arbeitet und arbeitet. Luft ist nichts für einen Magen, ein unverdaulicher Stoff. Er wird nicht fertig damit. Magensäure zersetzt sie nicht. Manchmal möchte ich Steine fressen, oder Glas oder Feuer, oder das Meer!
Früher habe ich große Hoffnungen in die Kunst von Ärzten gesetzt. Ich habe viel Geld ausgegeben, mir in meinen Hals sehen, auf meinem Bauch herumdrücken lassen. Angeblich war da nichts Anormales zu finden. Gewöhnen Sie es sich ab, hieß es immer. Ich habe mich ernsthaft bemüht, den teuren Rat zu befolgen, langsam zu schlucken, mit Konzentration.
Aber auch wenn ich mich vollkommen auf das Schlucken konzentriere, nur ausschließlich darauf, so dass ich vom Essen selbst überhaupt nichts mehr habe, passiert es. Ganz abgesehen davon, dass ich mich hier draußen gar nicht vollkommen darauf konzentrieren kann, es kommt doch immer etwas dazwischen, wodurch ich abgelenkt bin. Biss um Biss geht es gut. Ich kaue und kaue und konzentriere mich. Aber dann – ein Vogelschrei direkt über meinem Kopf, der Lärm einer Steinfuhre, die vom Band in die Loren prasselt, von den Loren in die Lastwagen, ein aufheulender Motor – ich fahre zusammen und schlucke Luft. Ich schlucke sie literweise, denn ich habe mir angewöhnt, viel zu schlucken aufs Mal, schnell zu kauen, auch nicht sehr gründlich, damit ich sofort wieder an meine Arbeit kann. Die Steinbrüche warten nicht auf einen wie mich. Die Pausen sind kurz. Und es ist auch überhaupt eine allgemeine Unfähigkeit, mich auf einen Punkt zu konzentrieren, die aus der Krankheit selbst kommt. Ich bin auch abgelenkt durch meinen eigenen Bauch. Er ruft sich mir ja ständig in Erinnerung durch die Strapazen, den Druck und die Schmerzen. Nicht einmal der gänzliche Verzicht auf jegliches Essen hat je etwas verbessert an meinem Zustand. Ich schlucke trotzdem. Erst recht viel und oft, weil ich hungrig bin. Ich schlucke, dass mir die Kehle schmerzt. Hunger macht mich nervös.
Fenchel- und Kümmelkerne. Verschiedene Sorten Tee. Massagen. Wärmflaschen. Gymnastik für Zungenrücken und Bauch. Medikamente. Yoga. Akupunktur. Ich habe alles versucht. Ich habe nachts bei Vollmond Zwiebeln vergraben in einem fremden Garten. Ohne Erfolg.
Es ist etwas Organisches.
Es ist etwas Organisches.
Ausblenden, diesen Körper, diesen ganzen aufgeregten, aufgeblasenen Koloss einfach mit keiner Aufmerksamkeit mehr bedenken. Er ist gestorben für mich mitsamt seinen Schmerzen, Punkt.
Schließlich: Was habe ich mir nicht schon alles abgewöhnt, und bin dabei doch nur aus einer Unsitte in die nächste getaumelt! Vom Daumenlutschen zum Nägelkauen, vom Nägelkauen zum Kettenrauchen, vom Kettenrauchen zum Trinken, vom Trinken zum Luftschlucken. Wer weiß, was als nächstes käme. Es ist eine Gier. Es ist immer schlimmer geworden mit dieser Gier. Immer am Ersticken. Oder am Verhungern, ich konnte es nie auseinanderhalten. Immer aus dem Regen in die Traufe. Ach, wäre ich beim Daumenlutschen geblieben. Damit ist es mir noch am besten gegangen.