Reinhardt O. Hahn (Cornelius-Hahn)

 geboren:

1947

 Adresse:

Kardinal-Albrecht-Straße 39       06108 Halle (Saale)

 Telefon:

034783 / 602 35

 E-Mail:

info@mitteldeutsche-letters.de

 

Biografie:

Geboren in Gottberg, Kreis Neuruppin. Im Juni 1953 verließen die Eltern den Osten. Erst in Westberlin, danach in Bremen, wurde R. O. Hahn 1954 in Krefeld-Traar am Rhein eingeschult. 1959, nach der Scheidung der Eltern, kehrte der Vater zurück in die damalige DDR. Seine jüngeren Kinder wurden von der Mutter in den Osten abgeschoben, darunter auch Reinhardt O. Hahn.
1960 starb der Vater. Mit 14 Jahren versuchte R. O. Hahn die Republikflucht, danach wurde er ins Kinderheim geschickt. Er lernte den Beruf des E-Monteurs in Brandenburg, arbeitete danach beim Tiefbau als Baggerfahrer und wechselte nach Leuna. Sesshaft wurde R.O. Hahn erst 1966 im Bezirk Halle/Saale. Schichtführer in Leuna. Funktionär der FDJ von 1971 bis 76. 1976 Ausschluss / Austritt aus der SED. Er wechselte mehrmals den Wohnort und den Arbeitsplatz.
Er findet Halt an literarischen Versuchen. Studium der Literatur in Leipzig von 1978 bis 1982 (Literaturinstitut). Seit dem 14.1.1982 abstinent lebend.
Seit 1983 freischaffend als Schriftsteller tätig. Erste Veröffentlichung 1986 (Das letzte erste Glas). Hat insgesamt neun Kinderbücher und vier Romane geschrieben. 1988 Eheschließung (Cornelius-Hahn).
1990 freischaffend geblieben. Kleines Unternehmen gegründet. 1992 Geschäftsführer einer GmbH, Mehrheitsgesellschafter. Wohnt seit 1996 in Adendorf-Friedburgerhütte (Kreis Mansfelder Land). Seit 2017 lebt er wieder in Halle (Saale). Ist Mitglied im Friedrich-Bödecker-Kreis Sachsen-Anhalt.

Bibliografie:

Das letzte erste Glas, Roman, 1986, Halle, Mitteldeutscher Verlag
Noah II, (mit Klaus-Dieter Loetzke), Science-Fiction-Roman, 1988, Halle, Mitteldeutscher Verlag
Ausgedient – Ein Stasi-Major erzählt Novelle nach Notizen und Berichten eines Majors des MfS erzählt, 1990, Halle, Mitteldeutscher Verlag
Die Suche nach dem Glück, Sucht- und Drogenführer, 1993, Halle, JUCO-Verlag
Keiner hat mir gesagt, wie ich leben soll, Hallesche Autorenhefte Nr. 16, 1998, Halle, Förderkreis der Schriftsteller

Robert Samstag – Ein Wirtschaftskrimi, 1987, unveröffentlicht

verschiedene Kinderführer (Halle, JUCO-Verlags GmbH, danach Projekte-Verlag Cornelius GmbH):
Die pinkfarbene Schleife, 1993; Die Hussiten in Naumburg, 1993; Das Zauber-Trike, 1993; Der Wunderflummi, 1993; Der Ritterschlag, 1993; Schneller als man denkt ..., 1996; Das gestohlene Licht, 1998

Daneben zahlreiche Kurzgeschichten, publizistische und journalistische Arbeiten.
Ausgedient wurde ins Französische und Italienische übersetzt und verfilmt (Dokumentarkinofilm 88 min.).

Arbeitsgebiete:

Kinderbücher, Sucht- und Drogenprävention, Bewältigung der Gegenwart und ihrer Konflikte
Seit 1977 schreibt er an einer Roman-Trilogie über die deutsche Teilung und Wiedervereinigung.

Themenangebote:

Für Erwachsene:

1. Besonders für Sucht- und Drogenkranke, Therapeuten, Alkoholiker-Beratungsstellen
2. Leserschaft und Interessenten für DDR und des MfS
3. Bewältigung von Konflikten und Problemen: Freiberuflich und geschäftsführend tätig sein
4. Konfliktbewältigung; Gewalt gegen sich, Selbstzerstörung
Scheitern und Bewältigung und Neubeginn

Für Kinder, Schüler:

1. Heimat- und Lebensfreude spannend dargestellt (3. bis 8. Klasse)
2. Selber schreiben macht froh oder ...: Wie schreibe ich eine Geschichte? (3. und 4. Klasse)
3. Leben lernen ohne Drogen und Sucht (6.bis 12. Klasse)
4. Geschichte der DDR und des MfS (10. bis 12. Klasse)

 

Textprobe:

Einleitung zum Verständnis der Roman-Trilogie

Der Lehrer Albert Hahn bereitet in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts die 700-Jahr-Feier der Stadt Neuruppin mit vor. Sein Beitrag ist die Überarbeitung der Gottberger Chronik, seines Heimats- und Geburtsortes, die in kleinen Teilen auch Eingang in die Geschichte der Kreisstadt Neuruppin finden soll. Er trifft bei der Recherche auf die Familie seiner Frau, die jüdischer Abstammung ist. Er fälscht darauf im Kirchenregister ihren Namen als Mutter seiner drei Kinder. Diese Lebenslüge, die sich im Standesamt offenbart, weil ein eifriger Beamter die Ahnenpässe der Familien überprüft, führt dazu, dass die Beziehungen miteinander im Dorf und auch die seiner Nachkommen untereinander zerbrechen. Seine Frau legt Hand an sich, er selbst stirbt einen frühen Tod, weil er nicht mehr weiß, wie er leben soll.
Diese Familiengeschichte, die von 1638 an erzählt wird und deren Band I „Eure Schuld ist nicht mein“ in einer großen Romanerzählung 1938 mit der Chronik endet, wird von dem eigentlichen Held bzw. der Hauptfigur, die nach dem Krieg 1947 geboren wurde, im Jahre 2015 in einem Archiv gelesen.

Im Band II: „Die Zukunft war unser Land“ wird die Geschichte einer zentralen Figur erzählt. Von 1947 ausgehend bis im Jahr 1989. Er ist in der Überarbeitung, besteht aus knapp 700 Buchseiten. Ein kleines Stück dieser Version, wie hier in szenischen Romanstücken vorgestellt, den Lesern als Erzählprobe.

Band III (Das Irrenhaus im Paradies), heute schon bestehend aus Material, Erzählungen und fertigen Romanteilen. Er (der Band) handelt um die Zeit, in der unsere Helden im Oktober 1989 auf dem Marktplatz in der Stadt Halle (Saale) stehen und eine Wende verlangen. Band III erzählt über ein neues Land, neuer Familie, neuem Vorhaben (Geschäftsgründung), auch mit dem Scheitern und mit all den Veränderungen, die von 1989 - 2015 passieren, erzählt, bis zu dem Tag, als die Mutter des Helden, eine Jahrhundertfrau, stirbt.

AUSZUG

„...Ich suchte die Pension auf, um meine Tasche zu holen, doch vorher ging ich zur Berliner Mauer, sehr ängstlich und immer den Kopf gesenkt. Bald stand ich vor dem Ende des Satzes, auf den meine Großmutter wahrscheinlich schon seit Jahren starrte und ihn sich zu erklären versuchte:
„AUCH HITLER HAT ...“, und um die Ecke stand: „... DIE MAUER GEBAUT“.
Bunt, nachdenklich machend und eigentlich ungeheuerlich. Unsere Mauer, die seit fast dreißig Jahren der ANTIFASCHISTISCHE SCHUTZWALL war, beschmutzt von der Westseite.
...Als ich zwei Wochen später wieder in Halle ankam, wurde ich bei der Kriminalpolizei (K I) einbestellt. Man sagte mir:
Es sei der Verdacht entstanden, dass ich unberechtigt in einem Flugzeug Westberlin verlassen habe, obwohl der besondere Status der Stadt Berlin dies nicht erlaube. Mir ist bis heute nicht klar geworden, wie sie das herausbekommen haben könnten. Weder im Schriftstellerverband noch in der Stadtmission habe ich von meinem Umweg über Krefeld erzählt, der mich bis Paris geführt hat.

AUSZUG

Nach der Flucht 1953
Mit dröhnenden Motoren erhob sich das schwere Propellerflugzeug von der Startpiste. Tempelhof blieb ebenso unter uns zurück wie die Häuserschluchten, der geschäftige Lärm auf den Straßen, die Autos und das Flüchtlingslager im Westen der Stadt. Das unangenehme Druckgefühl in den Ohren ließ nach, verschwand bald ganz und gar. Ich zerkaute den Rest des Startbonbons. Mutter verteilte Apfelsinen und wies mehrmals auf den Preis hin. Mich ärgerte an der Frucht, dass die Kerne nicht in der Mitte saßen. Bei einem Apfel wusste ich wenigstens, woran ich war.
Ich aß die Apfelsine von den anderen unbeobachtet mit der Schale, weil ich immer Hunger hatte.
„Weißt du, Rudolf”, Mutter legte die Hand auf Vaters Arm, „ich habe endlich das Gefühl, es wird alles gut.”
„Falls kein Luftloch dazwischenkommt”, orakelte Franziska. Erschrocken schaute ich durch das ovale Fenster. Ich betrachtete die Wolkenfelder, in die wir steigend flogen, und suchte nach Löchern. Erst weit oben wurde mir klar, dass der Himmel ein wunderschönes, weißes Gebirge ist, in dem ich es gut haben könnte, aber erst, wenn ich gestorben bin. Aber ich lebte, und die Vorstellung, den Weg in den Himmel ohne Flügel im Rücken zu ersteigen, beunruhigte mich.
Vater erzählte unseren Großen, Norma und Gerd, dass er vom Fliegen nicht viel hielte. Damals im Krieg, nach seiner dritten Verwundung, da klemmte er fast erfroren zwischen zwei Munitionskisten in einer überladenen JU 88.
Eine russische Jak schoss das Heck in Brand. Dem Piloten gelang es tatsächlich, die Maschine abzufangen und bis hinter die Frontlinie zu bringen. Sie landeten auf einem vereisten Feld. Wenn er daran zurückdenke, sagte Vater, bedauernd hob er das rechte, kaputte Bein, würde ihm heute noch im Flugzeug schlecht. Mutter wies ihn darauf hin, dass er den Schuh nicht wieder ausziehen sollte, um allen die verwundete Ferse zu zeigen.
Berlin ähnelte aus der großen Höhe nur noch einem gewaltigen, grauen Dorf. Straßenkreuzungen hoben sich bei der Betrachtung hervor. Stadtteile lagen immer noch in Trümmern.
Monoton summten die starken Motoren der amerikanischen Maschine. Das Flugzeug surrte über die Fluren und Wälder der Mark Brandenburg und die Felder der Börde.
In Hannover blieben wir nur zwei Tage. Diese Stadt wollte uns nicht haben. Wieder schliefen wir in einer Halle, und am Tage hetzten die Eltern wegen irgendwelcher Papiere von Amt zu Amt. Dann stand man fest, in Bremen würden wir auf die Zuweisung einer neuen Heimat warten müssen. Es würde nicht nach Friedland gehen.
Vorerst erhielten wir für das Ruhrgebiet aber noch keinen Zuzug. Alles war nach Ländern und auch nach Besatzungszonen in der Bundesrepublik geregelt. Vorerst zog die Familie weiter nach Bremen. Übermorgen, so die Mutter, würden wir das Meer sehen. Die Nordsee. Sie sei aber ein richtiges Meer.

Wir wurden in einer geräumten Kaserne untergebracht. Mein Vater wollte am zweiten Tag zurück nach Neuruppin. Er packte die Sachen und stand einsam auf dem Exerzierplatz der Kaserne. Er wartete auf seine Frau und auf die Kinder, und er war davon überzeugt, dass der Volksaufstand im Osten ein gutes Ende für uns alle nehmen würde. Aber von unserer Mutter kam kein Befehl. Sie erklärte unseren Vater für verrückt.
Die Russen sollten ihr Recht geben. Sie waren mit Panzern gegen die Streikenden vorgegangen und es hagelte Urteile gegen die Aufwiegler, wie es in den Zeitungen hieß. In Bremen war man davon weit weg. Raus, weg, endlich abgehauen aus der Zone. Nur darüber sprachen die Erwachsenen, als im Osten die ersten Todesurteile gefällt wurden.
Eine kleine Offiziersstube in der Bremer Kaserne wurde unser Zuhause. Jeden Tag warteten die Eltern auf einen Bescheid, einen Hinweis oder eine Erklärung, wie es weitergehen sollte, doch die Monate vergingen.
Noch war es unter dem Dach warm, doch als der Winter kam, da froren wir. Der kleine Kanonenofen fraß das Holz und die Kohle. Die Ofenplatte und das Rohr glühten kometenhaft auf, um nach ein oder zwei Stunden in ein eisig anmutendes Dunkel zu versinken. Nachts krochen wir zusammen und zogen die Decken über die kalten Köpfe, bis Füße und Gesäß unterkühlt waren.
Vater arbeitete stundenweise bei einem Bauunternehmer, Mutter half früh auf dem Markt aus. Manfred und ich, wir formten Lehmkugeln im warmen Wasser, spießten diese auf biegsame Gerten und schleuderten die runden Geschosse nach Katzen und an die tristen Kasernenwände. Franziska ging mit ihrem ersten Freund. Er hieß Horst und war ein Einheimischer. Das Verhältnis platzte, als seine Eltern dahinter kamen. Wir waren Flüchtlinge, daran störten sie sich sehr.
Die älteren Geschwister wurden in Köln von Tante Hedwig, Mutters Schwester aufgenommen worden. Sie war kinderlos und ihr Mann, ein ehemaliger Oberleutnant zur See, war eben der Grund für die Kinderlosigkeit, was wir uns aber nicht erschließen konnten. Jeder hatte Kinder, das konnte man an unserer Familie deutlich sehen. Eigentlich zu viele, denn immer ging es um das Essen und um die Kinder und auch ums Geld, was ja alles miteinander direkt zu tun haben soll.
Für die beiden Großen unterschrieb Vater die Lehrverträge. Danach setzen sie sich in den Zug und fuhren nach Köln. Gerd ging als Bäcker, Norma als Näherin in die deutsche Zukunft. <-----------------übernommen------------------> +++
Im Spätherbst entließ der Baunternehmer meinen Vater. Er beschäftigte nur noch die alte Belegschaft. Wer wollte es ihm verdenken. Ein eisnadelgespickter Wind piekte die Menschen, und der Kalk friere, so sagte mein Vater, an der Kelle fest. Er lief von nun an ziellos durch die Stadt und suchte nach einer Gelegenheitsarbeit, um die schmale Wohlfahrtsunterstützung und das Stempelgeld aufzubessern. Eines Tages kam er, wie so oft, allein und enttäuscht von einer seiner vergeblichen Touren zurück. Er rief uns vom Platz, wir gingen mit ihm in die Kaserne.
Als wir unsere Unterkunft betraten, sahen wir Mutter in einer Schüssel mit heißem Wasser sitzen. Sie stellte eine geleerte Flasche ab, deren Inhalt sie herunter gewürgt hatte. Ehe sie ein Wort sagen konnte, hatte Vater sie aus der Schüssel emporgerissen.
Ihr Leib schien mir aufgedunsen. Er schlug ihr ins Gesicht. Das Blut tropfte von ihrem Kinn und perlte über den ein wenig gewölbten Bauch. Es färbte das Wasser zu ihren Füssen rötlich. Erst danach sahen die Eltern Manfred und mich. Sofort schrien sie aufeinander ein.
Sie sprachen wochenlang kein Wort miteinander. Ich glaube, Vater sprach auch mit uns Kindern nicht mehr. Mutter wehrte sich erbittert gegen das ungeborene Leben in ihrem Leib. Am Tag darauf hing sie am Türrahmen der Gemeinschaftstoilette, um meiner kleinen Schwester das Leben zu verweigern. Für die Klimmzüge reichten ihre Kräfte kaum aus. Mutter sprang bis zur Erschöpfung wieder und wieder von einem Stuhl. Es war zwecklos, Ilona, so sollte sie eines Tages heißen, hatte einen zähen Lebenswillen und blieb in ihr.
Manchmal denke ich, sie hat ihre kleine Tochter bis in das Erwachsenenalter, ja bis zu deren Tod gehasst, denn sie hat sie nie losgelassen. Ich kenne Menschen, die trugen die Nabelschnur bis zu ihrem Suizid erst am Bauch und danach um den Hals. Damals kaufte meine Mutter einen Siebenstriemen. Mehrmals verschloss sie die Tür, um Franziska und mich zu strafen. Manfred saß schreckgelähmt in einer Ecke, Franziska und ich verkrochen uns unter den Betten oder hinter dem Schrank, um den Lederquasten des Ochsenziemers zu entgehen.
Doch es gab auch Trost in Fülle. Jeden Samstag marschierte die Heilsarmee auf den Exerzierplatz, um den kommenden Ruhetag der Flüchtlinge zu segnen. Es sah erhaben aus, marschierten die Diener des Herrn, von scheppender Musik begleitet, auf den Platz. Wir bestaunten die Koppel, Litzen und Schnürstiefel. Waren Musik und Gesang beendet, so trat ein Offizier vor.
Er hob das scharf geschnittene Lockenhaupt und setzte uns durch eine gefälligen Rede darüber in Kenntnis, dass sich in Bälde ein Heiliger Schatten über die sündige Menschheit legen würde, und, dieser betrübliche Umstand könne nur gemildert werden durch Gottes Gnade und Geduld, derer wir daran teilhaftig werden sollten. Die Flüchtlinge sollten sich bekehren lassen. Wer nicht in sich gehe, auf den würde die große Bombe fallen, so weit sei ihm die Zukunft sicher. Sogar eine Frau war unter den Offizieren. Sie trug das Haar im Nacken zu einer obzönen Raute geflochten, wie ich sie zwischen den Beinen meiner Schwester gesehen hatte. Ihr Blusenkragen war zerknautscht, so bald sie sich in Rage geredet hatte. Das Gesicht der Frau war bleich.
Meiner Vorstellung nach führte sie ein anstrengendes Leben. Aber sobald sie sprach und ich in ihre Nasenlöcher gucken konnte, da erglühten ihre Wangen und die Stirn in entrückter Schönheit und ich öffnete meinen Mund, um ihre Worte besser verstehen zu können. Mein Hörschaden im rechten Ohr, den ich meinem großen Bruder verdanke, schränkte mein Richtungshören ein, wie ich es später erfuhr, als ich mich 1965 bei der Nationalen Volksarmee als Flieger zu bewerben hoffte. Damals in Bremen jedoch waren alle froh, dass nicht viel Schlimmeres passiert war, als Gerd, der Größte von uns, hinter einer Betonwand die Splinte von Granaten abzog und sie in einer Grube hatte explodieren lassen. Daher meine einohrige Schwerhörigkeit rechts, die mich bis zum Lebensende zwingen wird, immer rechts neben einem Gesprächspartner zu gehen oder den Rollator so zu schieben, um einem Gespräch folgen zu können. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb meine Mutter emsig nach eine dienlichen Verwendung ihrer ältesten Kinder gesucht hatte und sie vorerst nach Köln abgegeben hatte.
Jedenfalls ging niemand von der Familie mit der Heilsarmee in eine fremde Zukunft, denn diese Leute suchten Nachwuchs für ihre Idee, die sie auch die Liebe zu Gott nannten. Meine Mutter liebte das aktive Leben. Während mein Vater arbeitslos und träge früh angetan mit einer graugeschlitzten Nachthose dem Doppelbett entstieg, die seinen allerersten Schritt in den frühen Morgen aufklaffend begleitete, dachte Mutter über einen Ausgleich zum eigentlich doch sehr bösen Alltag nach. Sie, die immer neugierig und unternehmerisch auf alles ringsum reagierte, beabsichtigte mit uns an den Händen in die Altstadt zu gehen, um die Bremer Stadtmusikanten anzuschauen.
Das Wahrzeichen der Hansestadt, eine Bronzestatue von Gerhard Marcks, befindet sich an der linken Seite des Rathauses und erinnert an das Märchen der Brüder Grimm.
So wie wir, so hatten sich Esel, Hund, Katze und Hahn auf in die Stadt gemacht, um hier ein besseres Leben zu finden. Sie haben es nicht geschafft und uns ging es ebenso. Ich kniete vor dem Denkmal und umfasste die Vorderbeine des Esels und wünschte mir ein schönes Leben und dass ich bald in die Schule käme, um tüchtig zu lernen und vor allem wünschte ich mir auch, Mutters Siebenstriemen dadurch zu entgehen, indem wir von dessen Quasten jeden Tag ein winziges Stückchen mit dem Messer kappten, um unsere Schmerzen zu lindern.
Zwei Wünsche sollten sich bald erfüllen. Ich kam in die Schule in einer anderen, auch sehr große Stadt, die einst sich immer beeilte Samt und Seide herzustellen und dadurch ihre Berühmtheit erlangt hatte, aber leider litt sie ebenso noch sehr an Trümmern, die wie Geschwüre überall aufgetürmt worden waren, auf denen sich das wilde Grün ausbreiteten konnte. Der zweite Wunsch erfüllte sich schneller. Nicht nur der Ochsenziemer war stark verkürzt worden durch Franziskas und meiner heimlichen Tätigkeit daran, sondern auch der vorgewölbte Bauch unserer Mutter schien ihre Arme in der Länge so stark zu verkürzen, dass sie uns nicht erreichen konnte.
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Östlich von Krefeld fließt der Rhein in einen stark geschwungenen Bogen, der auf der Landkarte wie ein Versuch aussieht, diese Stadt ins Ruhrgebiet einzugrenzen. Eine mächtige Brücke verbindet sie mit der Städteballung östlich des Rheines. Wer keine Stellung bei Samt und Seide, bei Zankst, Bayer, Frech, Maizena oder anderen Firmen hatte, der musste täglich über diese Brücke in den Ruhrpott fahren.
Es war kalt und der Wind schob eisige Luftmassen durch die Straßenzüge der Stadt. Er trieb mit dem verwelktem, sprödem Gras sein Spiel, kletterte über Häuser und Hallen, strich über Wege und Straßen und zerrte an starren Zweigen und Ästen. Auf den Plätzen vor der Dionysiuskirche und dem Schwanenmarkt fiel er wütend über die Menschen her, schüttete eisige Schauer aus, um sich sogleich von ihnen abzuwenden und an den Marktbuden zu rütteln. Er nahm den Rauch von den Dächern, er zerriss und zerfetzte ihn zu blauen Dunst. In Uerdingen erteilte er, von dem langen Weg über die Stadt aufgebracht, Portalkränen und Zugmasten Noten für ein schauriges Lied, um sich danach schwach und ohnmächtig geworden an den Widerständen der Stadt, in den Rhein zu stürzen.
Eine kurze Zeit sollten wir es noch in einer Flüchtlingsunterkunft aushalten, erhielten die Eltern einen Bescheid. Man baue im Süden der Stadt, in Oppum, und dort würden wir alle ein gemeinsames Zuhause finden.
Wir erhielten eine Unterkunft in Krefeld-Traar. Die Eltern besassen schon einige Kleinigkeiten, wie Kleidung und Geschirr. Erschöpft kamen wir nachmittags in einer Turnhalle an, die ein praktisch denkender Beamter, einem genialen Einfall folgend, in Pappzellen hatte aufteilen lassen. Jede Familie mit mehreren Kindern bewohnte zwei der fünf mal fünf Schritt großen Nutzräume. Diese überdimensionale Eierkiste war auf dem Parkett so aufgesetzt, dass ein handbreiter Spalt es uns neugierigen Kindern erlaubte, das Treiben der Nachbarn zu beobachten oder gar zu klauen. Zwei Radios spielten ständig. Oft wählten die Besitzer einen unterschiedlichen Sender. Nachrichten in deutscher Sprache wurden überspielt von einem amerikanischen Sender, dessen Musik auch in Krefeld gut zu empfangen war.
Jede Pappzelle war verschließbar. Sobald man mit dem Rücken auf der Matratze lag, konnte der Blick durch die Netze in Glühbirnen versinken. Darunter sammelten sich am geschäftigen Tage tausende Worte zu einem summenden Brei, nachts waren es die wabernden Gerüche, die unsere Nasen packten. Die Pappzellen waren ständig ausgeleuchtet.
Zwei Schlauchgänge trennten die Wohnzellen aus Pappe. Sie endeten vor Turngeräten und Türen. Ein aufgeklebtes Schild, ebenfalls aus fester Pappe, wies die Wege zur Küche, auf den Hof und zum Ausgang in die Stadt.
Die Küche, in früheren Umkleide- und Duschräumen eingerichtet, war das Kampffeld meiner Mutter. Jede Familie rang täglich darum, die eigenen Leute mit einer Mahlzeit, die oft aus schmackhafter Brotsuppe, amerikanischen Konserven oder auch nur aus Schnitten, bestrichen mit Margarine, bestand, zu versorgen. Kaum eine Abwechselung bot die allmorgendliche Lebertrangabe, die an uns Kinder verteilt wurde. Die Erwachsenen witzelten, dass der Tran vom Löffel im Mund bis zum Darmaustritt einen zusammenhängenden Strang bilden könne. Man bleibe kleben, wo man zu lange irgendwo sitze. Das machte Angst.
Franziska öffnete die knarrende Hallentür. Manfred und ich schlüpften durch den Spalt. Vater rüttelte am Schloss unserer Pappzelle, um sofort einen Bruch feststellen zu können. Wir sind noch nicht beklaut worden, stellte er fest und ging in unser Quartier.
„Ich weiß nicht”, sagte er, „obwohl du drin bist in der guten Stube, bist du trotzdem noch draußen.” Sein Blick wanderte zur vernetzten Hallendecke.
„Was du immer meckerst, Rudolf. Wir haben vier Wände und wir haben es warm”, entgegnete Mutter und legte ihren Hut auf eine mit rotem Seidenpapier beklebte Obstkiste.
„Mief ist keine Wärme“, sagte Vater und brannte sich eine gute Juno an, obwohl das Rauchen in der Halle verboten war. Er setzte sich an den zerkratzten Küchentisch, den unsere Vorgänger zurückgelassen hatten. Mutter ging mit der Nachbarin in die Lagerküche.
Die Leute waren aus der Lausitz. Sie besaßen bis vor zwei Monaten einen Kaufmannsladen, jetzt waren sie so arm wie wir. Eine Kassenkontrolle veränderte ihr Schicksal, danach wurde am Standort ein Konsum eingerichtet. Mutter sprach der Nachbarin Mut zu, den sie auch gebrauchen konnte, denn ihr Mann trug sich mit Selbstmordabsichten, was man allgemein abscheulich oder sogar gottlos fand. Vater zog die Schublade aus dem Tisch und begann die Papiere der Familie zu ordnen. Wir saßen im Nebenraum und wechselten die Wäsche. Franziska las aus einer verbrauchten Illustrierten einen Artikel vor. Es ging um eine Prinzessin aus Britannien, die keinen Mann fand. Ein Märchen war das nicht. Bald saßen wir um den Tisch. Die Maggisuppe war sehr heiß, wir aßen Ramaschnitten dazu. In der Halle klappte die große Tür auf und zu. Die lallende Stimme eines Betrunkenen lärmte über die Pappzellen. „Ruhe!”, schrieen mehrere Leute.
„Diese Besoffenen”, brummte Vater unwillig. Drei Nutzräume weiter knallte der Betrunkene die Tür zu. Die Pappwände bebten. Wir zuckten zusammen, als eine Schüssel auf den Hallenparkett fiel. Es prasselte und hüpfte und es klang, als gebe jemand in der Ferne unzählige Salven aus einer Maschinenpistole ab. Erbsen rollten durch die Spalten von Zelle zu Zelle. „Meine Erbsen!”, rief der Mann. „Ich will meine Erbsen wieder! Was soll ich morgen essen?”
Jungen und Mädchen öffneten die Tür zu dem Betrunkenen und warfen die grünen, runden Kügelchen aufs Bett. Er kniete auf dem Boden und versuchte die Erbsen von den Glassplittern zu trennen. Die Eltern öffneten das Reisegepäck. Zuletzt nahm Vater eine dicke Kordelschnur, die er um die Klinke der Tür wickelte. Franziska hielt eine Segeltuchtasche auf, Mutter legte Kleidungsstücke zum Waschen hinein.
Später saß sie auf der Holzkiste und betrachtete unseren Vater beim Ausziehen ihrer dickmaschigen Strümpfe. Sie drehte sich mit dem Gesicht zur Wand und streifte sich ein weites knöchellanges Nachthemd über, eine Berliner Anschaffung. Vater packte seine Kleidung zu einem Päckchen, so wie er es bei der Wehrmacht gelernt hatte und es oft mit mir vergeblich wegen der Ordnung übte. Mutter kam abends immer zu uns. Sie streichelte Manfreds und mein Haar, sah Franziska fest in die Augen und erlaubte ihr noch eine Abendstunde auf der Straße vor dem Haus.
Die Halle mir ihren vielfältigen Geräuschen und Gerüchen begann uns zu beschäftigten. Wir beobachteten Vater und Mutter. Ich kannte es, das Rauchverbot ignorierte er auch im Bett und sie kroch an ihn heran, obwohl es auch so schon eng genug zwischen ihnen zuging.
Wieder krachte jemand eine Tür zu. Schleifende Schritte verloren sich in der Halle, dort, wo die verstaubten Turngeräte standen. Verärgert lauschten die Menschen, und es dauerte an, bis sich diese beklemmende Stille verlor.
Am anderen Morgen wurden wir von einem lauten Schrei geweckt. Der Mann der Nachbarin wollte zum Klo gehen. Oberhalb der Hallentür sah er den Betrunkenen. Er hing an einem Sprungseil, das um den Hals gebunden war, an der Sprossenwand.

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